Gefunden auf www.sehepunkte.de:
Keine Erscheinung des alten Preußen – vielleicht abgesehen von der Figur Friedrichs II. – ist bis heute in der kollektiven Erinnerung und dem Mythenschatz so präsent wie die sagenumwobenen „langen Kerls“, die direkt mit der Person des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. verknüpft sind.
Als „lange Kerls“ wurde im Volksmund das persönliche Regiment Friedrich Wilhelms I. bezeichnet, das 1717 aus der so genannten „Jagdgarde“, die der Thronfolger seit 1709 in Königs Wusterhausen aufgebaut hatte, und dem Regiment Kur- und ab 1701 Kronprinz zusammengesetzt war. Später auch als Königsregiment bezeichnet, erhielt es gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Stammnummer 6.
Bereits zu Lebzeiten Friedrich Wilhelms I. sorgten die „langen Kerls“ international für ebenso viel Aufsehen wie Kopfschütteln über die Bereitschaft des ansonsten bis zur Geizigkeit sparsamen und als „Plusmacher“ apostrophierten Monarchen, der doch Unsummen in sein Regiment investierte, um mit allen nur erdenklichen Mitteln groß gewachsener Soldaten habhaft zu werden. Hierbei resultierten die hohen Preise für besonders groß gewachsene Männer jedoch auch aus der internationalen Nachfrage beim Wettbewerb um den Aufbau repräsentativer Gardeformationen, der bis 1730 noch keineswegs zu Gunsten Preußens entschieden war, wie der Bearbeiter in der Einleitung betont (XXVIII). Für die folgende Zeit und bis auf den heutigen Tag liegen die Verhältnisse anders, sodass auch der Preußenkritiker den Erfolg der Investition in die Repräsentationsfunktion dieser auf den ersten Blick so seltsam anmutenden Erscheinung im Positiven wie im Negativen nicht in Abrede stellen kann.
Jürgen Kloosterhuis nimmt sich insofern zurück, als er keine Gesamtdarstellung des Königsregiments vorlegt, sondern sich, wie bereits in seinem zweibändigen Werk zum preußischen Westfalen im 18. Jahrhundert [1], auf ein thematisch gegliedertes Regestenwerk beschränkt. Der Bearbeiter trägt hier einen breiten Fundus archivalischer Quellen, Kirchenbücher, Quellenbearbeitungen, die heute im Original verschollen sind, sowie Abbildungen zusammen. In dieser Beschränkung liegt gleichzeitig der überzeitliche Wert der Publikation, die für sehr lange Zeit unabhängig vom wechselnden methodischen Zugriff Grundlage und Ausgangspunkt nicht nur für die Beschäftigung mit dem Königsregiment, sondern auch für das Militärwesen unter Friedrich Wilhelm I. insgesamt bilden wird.
Dies vor allem, da der Bearbeiter mit den Kabinettsminüten, denen ein großer Teil der Regesten entstammt, einen Quellenkörper erschlossen hat, mit dessen Hilfe sich Einblicke in verschiedenste Aspekte des Militärwesens unter Friedrich Wilhelm I. gewinnen lassen, für das der Verlust der Militärüberlieferung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges besonders schmerzlich ist. Bei den Minütenbüchern handelt es sich um die kopiare Überlieferung der Kabinettsausgänge seit 1728. Aus dem Kabinett heraus erledigte der Monarch auch die Obliegenheiten, die ihm als Chef des Regiments Nr. 6 zuwuchsen. Dies reichte von allgemein militärischen Belangen über die Organisation des Dienstbetriebes bis hin zur Versorgung der Soldaten. Für die ausgewerteten Minütenbücher errechnet Kloosterhuis, dass sich von den jährlich etwa 6000 hier im Ausgang belegten Schreiben des Königs durchschnittlich jedes 20. auf sein Regiment bezog (1). Man erfährt aus den Regesten von rein militärischen Fragen der Rekrutierung oder des Exerzierens über Einzelheiten aus der Sanitätsversorgung, der Militärseelsorge bis hin zu Details aus dem Familienleben einfacher Soldaten oder der Offiziere oder dem Inventar eines Offiziershaushaltes, das unter anderem auch ein Bibliotheksverzeichnis enthält.
In der mit Verve vorgetragenen Einleitung unter dem Titel „Klischees und Konturen des Königsregiments“ rückt der Bearbeiter unter vier thematischen Schwerpunkten gleich einem ganzen Bündel von Mythen um das Königsregiment zu Leibe. Zugleich liefert er mehrere anregende Proben, in welche Richtungen das ausgebreitete Quellenmaterial interpretiert werden kann. So wird unter anderem deutlich, dass das Königsregiment tatsächlich über einen eigenen Rekrutierungsbezirk (Kanton) verfügte und sich entgegen der landläufigen Darstellung nicht nur aus der Abgabe von Soldaten anderer Regimenter und Werbung ergänzte.
Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen zu der Entwicklung der Größenverhältnisse und der Regimentsstruktur, die Kloosterhuis zu der zentralen These von „Kampfgarde und Palasttruppe“ verdichtet. Das Potsdamer Regiment Nr. 6 hatte sich demnach zu einer experimentalen Einheit entwickelt, in dem die für die gesamte Armee verbindlichen Exerzierreglements erprobt und ausgearbeitet wurden, das aber gleichzeitig die Repräsentationsfunktion erfüllte. Was die Körpergröße der Soldaten betrifft, so beobachtet Kloosterhuis seit den 1730er-Jahren, dass sich die legendären, über 6 Fuß großen Männer vor allem unter den so genannten „Unrangierten und Blaukitteln“ sammelten. Sie bildeten in der Regel eine Art Reserve der Regimenter, fungierten aber im Sonderfall des Potsdamer Regiments als „Palastgarde“ und prägten gemeinhin das Bild von den „langen Kerls“ nach außen. In „Reih und Glied“ – also in der Gefechtsformation – entwickelte sich jedoch ein Regiment, das auch von den Größenverhältnissen vorbildhaften Charakter für die anderen Linieninfanterieregimenter annehmen sollte. Diese Mustereinheit wurde durch Friedrich II. auch keineswegs aufgelöst, sondern verteilt auf andere Regimenter – unter anderem sein eigenes ehemaliges Kronprinzenregiment Nr. 15 – an prominenten Stellen weiterverwendet und schließlich in den folgenden verlustreichen Kriegen eingesetzt.
Von zentraler Bedeutung für die weitere Forschung dürfte vor allem die auch von Kloosterhuis aufgeworfene Frage nach der spezifischen „Regimentskultur“ sein, in der den Soldaten neben Fertigkeiten im Exerzieren eben auch ein „hohes Kompetenzgefühl“ (XIX) vermittelt wurde, was gleichzeitig auch das gängige Klischee von den rein maschinenmäßig funktionierenden willenlosen Soldaten zu einem guten Teil relativiert. Angesprochen werden auch die negativen Begleiterscheinungen, die in den Quellen eindrucksvoll belegten horrenden Kosten, die das Regiment verschlang, und die gewaltsame Werbung. Letztere stellte jedoch allem Anschein nach auch in dieser Einheit eher die Ausnahme als die Regel dar.
Den Hauptteil des Bandes bilden 750 Regesten, die der Bearbeiter thematisch in fünf Haupt- (Anwerbung und Übernahme von Rekruten, Regiments- und Garnisonsverwaltung, Militärdienstleistung, Sozialmilieu des Militärs sowie Auflösung und Neuformierung) und 20 Untergruppen klassifiziert hat. Die einzelnen Regesten wurden nach den Vorgängen zusammengefasst, mit kritischen Anmerkungen und Querverweisen versehen. Bei zahlreichen besonders prägnanten oder grundsätzlichen Passagen wurde zu einem gemischten Verfahren gegriffen, und es wurden teils längere Passagen aus dem Original transkribiert.
Den umfangreichen Anhang bilden 160 Seiten Truppenstatistiken sowie in vollständiger Edition Ranglisten und die Rangierrollen von 1726, 1734 und 1739, ein 30-seitiger Abbildungsteil der bekannten Individualportraits nebst zwei Skelettpräparaten, ein Archivalien- und Literaturverzeichnis, das in 13 thematischen Rubriken sämtliche relevante Literatur verzeichnet. Ein Personenindex, der laut Bearbeiter etwa 6800 Namen enthält – was in erster Linie auf die Edition der Rangierrollen zurückzuführen ist -, dürfte vor allem für die Familienforschung interessant sein, erleichtert aber auch die „Navigation“ in den Quellen. Ein geografischer Herkunftsnachweis von Personen rundet den Band ab.
Richtet sich der voluminöse Regestenband, der in Bezug auf ein derartiges Editionsunternehmen keine Wünsche offen lässt, in erster Linie an den interessierten Forscher, ist vor allem der Einleitung ein breiterer Leserkreis zu wünschen, als dies bei einem derartigen Werk mit entsprechend kleiner Auflage normalerweise der Fall sein dürfte. Insgesamt stellt das Buch ein unverzichtbares Arbeits- und Hilfsmittel für die sozial-, alltags- und formationsgeschichtlichen Forschungen nicht nur zum Königsregiment, sondern zur brandenburg-preußichen Militärgeschichte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein dar.
Anmerkung:
[1] Jürgen Kloosterhuis: Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713-1803, 2 Bde., Münster 1992.
Martin Winter
Quelle:
Martin Winter: Rezension von: Jürgen Kloosterhuis (Bearb.): Legendäre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713-1740, Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/11/5660.html
Angaben zum Buch:
Jürgen Kloosterhuis (Bearb.): Legendäre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713-1740, Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 2003, XLVI + 706 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-923579-03-7, EUR 62,00