Gefunden auf www.sehepunkte.de:
In Nordrhein-Westfalen gibt es eine archivische Sonderform: Die Personenstandsarchive (PA) in Brühl und in Detmold, die 2004 und 2005 das 50-jährige resp. 40-jährige Bestehen feierten. Beide Jubiläen sowie die darüber hinaus veranstalteten ‚Detmolder Sommergespräche‘ boten Gelegenheit, der facharchivischen wie der interessierten Öffentlichkeit Besonderheiten und Bedeutungen der PA für die historisch-wissenschaftliche Forschung und für die mehr von Laien betriebenen Familienforschung vor Augen zu führen.
Die Vorträge, die auf diesen Tagungen gehalten wurden, sind nun von Bettina Joergens und Christian Reinicke herausgegebenen worden. Einleitend erläutern sie die Gemeinsamkeiten des Archivtyps, der mit Kirchenbüchern, Zivilstands- und Standesamtsregistern die wichtigsten familienkundlichen Quellen bewahrt (12-21). Die insgesamt 17 Beiträge, die auf den multiperspektivischen Charakter der Tagungen verweisen, sind vier unterschiedlich langen Themenbereichen zugeordnet.
Teil 1 ist der Verbindung von Archiven und Öffentlichkeit gewidmet. „Vom Kopf auf die Füße“ stellt Bettina Joergens die Beziehung von Archiv und Familienforschung (24-38). Sie betont, dass die von archivarischer Seite meist belächelte Familienforschung durchaus sehr versiert betrieben wird und zahlreiche „Datenjunkies“ nicht nur die eigene Abstammung rekonstruieren, sondern längst darüber hinaus mikrohistorische Studien betreiben. Daher sollten Familienforscher als spezifische Kundengruppe anerkannt werden. Das PA Detmold bemüht sich, ihren Bedürfnissen durch entsprechende Veranstaltungen, Publikationen und Hilfsmittel entgegenzukommen. Christian Reinicke zeichnet die Geschichte der beiden Personenstandsarchive nach, deren Ursprung im rassenideologischen Interesse der Nationalsozialisten liegt, und leistet damit einen Beitrag zur nordrhein-westfälischen Archivgeschichte (39-53). Trotz erheblicher Verluste in der Geschäftsregistratur gelingt es ihm, die Entwicklung seit dem Erlass zur Zentralisierung der personenstandsrelevanten Quellen im Jahr 1942 nachzuzeichnen und die personellen Kontinuitäten zu benennen.
Der spezifischen Überlieferung in den Archiven wenden sich in Teil 2 zunächst Ragna Boden und Christoph Schmidt mit ihrem Beitrag über die Entwicklung des Personenstandswesens von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert zu (56-73). Der zweite Abschnitt ihres Beitrags beschäftigt sich mit dem PA Detmold, das nach dem Vorbild Brühls erst 1964 eingerichtet wurde. Durch die gemeinsame Unterbringung von PA, Staats-, Kreis- und Stadtarchiv in einem Gebäude sind die Recherchemöglichkeiten vielfältig. Personenstandsquellen in katholischen und in evangelischen Archiven stellen seitens des Historischen Archivs des Kölner Erzbistums Joachim Oepen (74-87) sowie aus Sicht des Archivs der evangelischen Kirche in Westfalen Wolfgang Günther und vom Archiv der Lippischen Landeskirche Maja Schneider (88-109) vor. Oepen erklärt zunächst die Archivaliengattung ‚Amtsbuch‘, die neben Urkunden und Akten nicht jedem bekannt sein dürfte, ehe er die komplexe rechtliche Grundlage für die Nutzung der Kirchenbücher im Spannungsfeld von Corpus iuris canonici, der ‚Anordnung über die Sicherung und Nutzung der Archive der Katholischen Kirche‘ und des Personenstandsgesetzes erläutert. Günther und Schneider skizzieren die Geschichte der evangelischen Kirchenbuchführung und betonen die Schwierigkeiten, die sich wegen der zahlreichen Landeskirchen und der zersplitterten Kirchenorganisation aus der Uneinheitlichkeit der Aufbewahrung und der Benutzungsregeln ergeben.
Über einen besonderen Bestand informiert Peter Gabrielsson in seinem Beitrag „Abfahrt vom großen Hafen in Hamburg“: die Passagierlisten und die Unterlagen der 1855 eingerichteten Deputation für das Auswandererwesen sind einzigartige Quellen für Genealogen (110-119). Gabrielsson präsentiert das Public-Private-Partnership-Datenbankprojekt „Link to Your Roots“, das eine zukunftweisende online-Recherchemöglichkeit für die Suche nach Auswanderern ist.
Teil 3 ist den Archivalien der Zukunft gewidmet und umfasst die Beiträge von Udo Schäfer über die „Novellierung des Personenstandsgesetzes“ und von Klaus Kaim vom Standesamt Hamm über die „Führung von Personenstandsbüchern im Standesamt“ (136-144). Kaim erläutert, welche Daten im Standesamt aufgezeichnet werden und welche Veränderungen sich im vergangenen Jahrhundert vollzogen. Abschließend verweist er auf die gesetzliche Regelung der Einsicht gemäß dem Personenstandsgesetz (PStG). Schäfer erläutert das Gesetz und erörtert die Bemühungen um die Neufassung, die sowohl technischen Neuerungen wie der elektronischen Signatur als auch archivgesetzlichen Anforderungen Rechnung trägt. Seine Hoffnung, dass sie bald verabschiedet werde, ist Ende Februar 2007 in Erfüllung gegangen: Personenstands- und Sicherungsregister sowie Sammelakten haben ihren Status als Schriftgut sui generis verloren und sind als Registratur- bzw. Archivgut anzusehen. Der Zugang zu Personenstandsunterlagen ist jetzt wesentlich erleichtert [1].
Mit neun Beiträgen zu vielfältigen Perspektiven der Geschichtswissenschaft ist Teil 4 am umfangreichsten. Anhand niederrheinischer Beispiele zeigt Peter Kriedte die Methodiken auf, wie die an Angaben reichen Zivilstandsregister für historische Demographie eines Raumes, wie die Einträge in Heiratsregistern für eine Vielzahl von Analysen nutzbar gemacht werden können (146-158). Probleme und Perspektiven einer Netzwerkanalyse diskutiert Stefan Gorißen (159-174). Er referiert sozialwissenschaftliche Konzepte und weist am Beispiel eines Projekts zur Vergesellschaftung des vorindustriellen Wirtschaftsbürgertums im rheinisch-westfälischen Grenzraum darauf hin, dass die mit Personenstandsquellen betriebene Genealogie den Ausgangspunkt der historischen Netzwerkanalyse bildet. Die verschiedenen Quellen für die Untersuchung von historischer Arbeitsmigration stellt Wilfried Reininghaus vor, der den besonderen Wert der Personanstandsquellen hervorhebt (175-185). Der Auswanderung aus Lippe widmet sich Stefan Wiesekopsieker (186-211). Mit dem aus privater Initiative erwachsenen „Amerikanetz“ stellt Friedrich Schütte eine Internetplattform vor, die der Verbindung von Auswandererforschern in Ostwestfalen-Lippe dient (212-222). Ebenfalls mit Auswanderung befassen sich Wolfgang Bechtel und Nicolas Rügge, die ein Verzeichnis aus dem Jahr 1708 als genealogische und sozialgeschichtliche Quelle auswerten (223-236). Thomas Kailer macht mit seinem Beitrag über „Meistererzählung und Leidensgeschichten“ Anmerkungen zum kollektiven und personalen Gedächtnis von Flüchtlingen und Vertriebenen (237-265). Ein Beispiel aus der Praxis bei der Suche nach vermissten/vertriebenen Angehörigen stellt Simone Verwied vor (266-276). Abschließend stellt Günter Junkers einen Überblick über genealogische Datenbanken zusammen (277-289) und betont, dass im Internet die Zukunft der Genealogie liege.
Der gut lesbare und überaus informative Sammelband schließt mit einer Liste der Autoren. Joergens und Reinicke ist einerseits zu verdanken, dass Familienforschung stärker ins Bewusstsein der Archivare rückt, und andererseits, dass interessierte Laien auf die vielfältigen Forschungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht werden.
Anmerkung:
[1] BGBl. I (2007), Seite 122: Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts (PStRG) vom 19.02.2007, gültig ab 1.1.2009, abweichend siehe Art. 5.
Pauline Puppel
Quelle:
Pauline Puppel: Rezension von: Bettina Joergens / Christian Reinicke (Hgg.): Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Annäherungen und Aufgaben, Düsseldorf: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/05/12392.html
Angaben zum Buch:
Bettina Joergens / Christian Reinicke (Hgg.): Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Annäherungen und Aufgaben, Düsseldorf: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen 2006, 291 S., ISBN 978-3-927502-10-9, EUR 24,95