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Ebba Severidt: Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga

gefunden auf sehepunkte.de

1653 In keiner Untersuchung zur Geschichte Alteuropas wird versäumt, auf die zentrale Rolle des Adels und seines spezifischen Selbstverständnisses für das, was mittlerweile „politische Kultur“ genannt wird, hinzuweisen. Ebenso wenig hinterfragt erscheint die Bedeutung von familiären beziehungsweise Verwandtschaftsbeziehungen einerseits für eine auf dynastischen oder Geblütsprinzipen aufruhende politische Elite und deren Selbstverständnis, andererseits für die Konstruktion und das Funktionieren von Wegen und Modi der politischen Kommunikation und Aktion. Für den Bereich der italienischen Geschichte – vor allem das frühneuzeitliche Papsttum – liegen zahlreiche Studien vor, die sich den mit dem Verflechtungsbegriff beschriebenen Grundlagen frühneuzeitlicher Politik widmen – wobei die Verwandtschaft nur eines von vielen Elementen einer ausgedehnten Patronagestrategie darstellt.[1] Durch eine solche Herangehensweise, gewissermaßen eine Außenbetrachtung, konnten über die familiären Strukturen selbst nur en passant Erkenntnisse gewonnen werden, die vielmehr relativ undifferenziert als lediglich „wichtig“ galten.

In ihrer Freiburger Dissertation geht Ebba Severidt von familiären beziehungsweise verwandtschaftlichen Bezügen aus, um erst nach deren gründlicher Analyse ihre politische Nutzbarmachung oder Aktivität zu beleuchten, sie wählt also die familiäre Innensicht als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Sie stützt sich in methodischer Hinsicht dabei weitestgehend auf in Freiburg und aufgrund von Beobachtungen zur klassischen Antike entwickelte analytische Instrumente der Historischen Anthropologie [2], dies wiederum in engem Zusammenhang mit Fragestellungen der historischen Familienforschung. Anschauungsobjekt sind vier Generationen der seit 1433 zu Markgrafen von Mantua erhobenen Gonzaga, ein an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit noch relativ junges Mitglied der europäischen Fürstenfamilie, das unter anderem durch vorteilhafte Eheschließungen seinen neu erworbenen Rang zu festigen und demonstrieren suchte.

Ebba Severidt wählt für ihre Darstellung einerseits das Fortschreiten vom Zentrum zur Peripherie – von der Kernfamilie zur weiteren Verwandtschaft -, andererseits den Weg vom Wort zur Tat, von Familien- und Verwandtschaftsbezeichnungen zu ihrer aktuellen Bedeutung im politischen Alltagsgeschäft. Beide Wege verschränken und ergänzen sich kontinuierlich. Die Quellengrundlage bilden im „Archivio Gonzaga“ im Mantuaner Staatsarchiv überlieferte Briefe der Markgrafenfamilie. Im ersten Kapitel rekonstruiert die Verfasserin aufgrund der Anrede- und Grußformeln in diesen Briefen ein „système d’appellations“ der Familien- und Verwandtschaftskreise; sie kann zeigen, dass es für eine der Kernfamilie entsprechende Einheit keine Bezeichnung gab, dass vielmehr das „Haus“ als Begriff für den Verband lebender, toter und zukünftiger Gonzaga fungierte – eine durch das gemeinsame Blut und den gemeinsamen Namen begründete identitätsstiftende und weitgefasste Gruppe, die Ehefrauen zu integrieren vermochte. Ein ähnlicher Befund gilt für die weiteren Benennungen von Verwandtschaft, die sich größtenteils nicht von denen für Angehörige der „domus“ unterschied – allerdings mit einer durch den Begriff der „necessitudo“ bezeichneten Grenze, die jenseits der Cousins ersten Grades verlief. Für alle weiter entfernten, durch kognatische Verbindungen begründete Verwandtschaftsverhältnisse waren die Anreden unpräzise, was auf korrespondierende Haltungen zur relativen Nähe und Ferne beziehungsweise Instrumentalisierbarkeit von Angehörigen verweist.

Die beiden folgenden Kapitel widmen sich den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie denen innerhalb der Geschwistergruppe. Der zentralen Bedeutung von legitimem Nachwuchs für den Erfolg einer Ehe und die „Fortuna“ einer Dynastie entsprach eine sehr emotional grundierte Kommunikation zwischen Eltern und Kindern beziehungsweise ein solchermaßen geprägtes Sprechen über den Nachwuchs. (Hier wie andernorts begeht Ebba Severidt nicht den Fehler, aus Sprechfiguren auf „echte“ Gefühle zu schließen; sie identifiziert vielmehr Haltungen, Rollen und Rollenerwartungen, die als Normen und handlungsleitende Größen für eine Fürstenfamilie der Renaissance auszumachen sind.) Zugleich konstituierte das Eltern-Kind-Verhältnis eine von Autorität und Gehorsam bestimmte Hierarchie, die Konflikte zwar nicht ausschloss, die jedoch grundsätzlich von einer unbegrenzten Verfügungsgewalt der Eltern über die jüngere Generation ausging. Wenn auch der älteste Sohn – und Bruder – innerhalb der Gruppe der Geschwister eine Sonderstellung einnahm, die zumindest in Teilen mit der des Vaters zu parallelisieren wäre, stellte das Geschwisterverhältnis eine prinzipiell von Gleichberechtigung bestimmte Schicksalsgemeinschaft dar.

Während innerhalb der Kernfamilie Kontakte zumindest auch und phasenweise durch die räumliche Nähe, durch unmittelbare Kommunikation bestimmt waren, drückte sich die soziale Interaktion mit der Verwandtschaft fast ausschließlich in und durch die schriftliche Korrespondenz aus. Im vierten Kapitel ihrer Arbeit kann die Verfasserin – analog zu den Ergebnissen ihrer terminologischen Untersuchung – zwei Verwandtenkreise ausmachen, die sich eindeutig durch die Korrespondenzdichte unterscheiden lassen: Zum engeren Zirkel gehörten Onkel und väterliche Tanten, zum weiteren Kreis alle übrigen Verwandten. Die als „aktive Verwandtschaft“ zu identifizierende Gruppe, innerhalb derer beispielsweise eine Praxis des persönlichen Schenkens – im Gegensatz zum demonstrativen zwischenfürstlichen Gabentausch – zu beobachten ist, veränderte sich von Generation zu Generation: Durch ein bilaterales und kognatisches Verwandtschaftsverständnis, das auf ein Ego ausgerichtet war, passte sich dieser Kreis kontinuierlich den aktuellen Konjunkturen, Heiratskreisen und Handlungsfeldern an.

Die Verknüpfung zweier Familien oder „Häuser“ geschah durch Schwiegerverhältnisse: Frauen waren als Ehefrauen und Schwiegertöchter die Scharniere, die Verwandtschaftsbindungen ermöglichten. Dem Verhältnis von alter und neuer Familie, der Integration fremder Prinzessinnen in ihre neue Heimat und der Beziehung der Gatten untereinander widmet die Verfasserin das folgende fünfte Kapitel. Sie kann zeigen, dass besonders die Gonzaga sich – erfolgreich – darum bemühten, die Doppelbindungen der Markgräfinnen und Prinzessinnen an ihre alte und neue Familie zu ermöglichen und diese für die politische Kommunikation nutzbar zu machen, und zwar durch eine Strategie, die man „Integration ohne Entfremdung“ nennen könnte. Dass dies bei den untersuchten Generationen in Mantua besser gelang als in den deutschen Fürstentümern, in denen Gonzaga-Prinzessinnen herrschten, lässt sich, bei allen individuellen Unterschieden der respektiven Ehepartner und der abweichenden Auffassung von Geschlechterrollen nördlich und südlich der Alpen, auch dadurch erklären, dass die hochadligen Markgräfinnen aus den Häusern Brandenburg und Bayern der Familie, in die sie einheirateten, aristokratischen Glanz und dynastische Legitimität verliehen, was ihnen gewissermaßen automatisch politisches Gewicht vermittelte.

Die beiden letzten Kapitel der Arbeit sind der Überprüfung der Valenz der Verwandtschaftsstrukturen in und durch Handlungen vorbehalten: Das erste Beispiel, die Eheschließungen der fürstlichen Kinder, unterstreicht gerade bei diesen hochgradig durch Taktik gekennzeichneten Strategien die Bedeutung der Mütter und der mütterlichen Verwandtschaft für die als letztgültiges Mittel der Allianzbildung betrachtete Form der Assoziation. Das im Anschluss untersuchte Feld der persönlichen Verflechtung zwischen den entsprechenden Höfen, der Versorgung der Familienkardinäle aus dem Hause Gonzaga, Francesco und Sigismondo, mit deutschen Pfründen und der politischen Zusammenarbeit der Gonzaga mit den Brandenburgern und Wittelsbachern kann als die eigentliche Nagelprobe des zuvor Postulierten gelten. Die Verfasserin weist für die Lebenszeit der beiden deutschen Markgräfinnen in Mantua, Barbara von Brandenburg (1423-1481) und Margarete von Bayern (1442-1479), ein dichtes Netz von Gefolgsleuten und politischen Beratern nach, die in der politischen Elite des jeweiligen Territorialfürstentums verankert waren und sich in Italien hauptsächlich als Informanten über nordalpine Verhältnisse beziehungsweise als Boten der Anliegen ihrer zweier Herren betätigten. Auffällig – und in erfreulicher Übereinstimmung mit zuvor getroffenen Beobachtungen – ist der schnelle Bruch brandenburgischer Verbindungen nach dem Tod der Markgräfin Barbara: Ein weiteres Indiz für die Kurzlebigkeit beziehungsweise kontinuierliche Veränderung der Verwandtschaftsstruktur sowie der mit ihr verbundenen politischen Bezüge. Dies gilt auch, wenn man die Interaktion der Gonzaga mit den Brandenburgern in kirchenpolitischen Belangen nach Barbaras Tod betrachtet: Die Hohenzollern wechselten schnell den Status von der aktiven zur passiven Verwandtschaft, bis sie gar nicht mehr für verwandtschaftlich grundierte Interaktion in Betracht gezogen wurden.

Das zunehmende Ausscheiden der deutschen Verwandten aus dem taktischen Kalkül der Gonzaga bereits ab 1485 entsprach einerseits – vor allem hinsichtlich der Kirchenpolitik – einer rapiden Italianisierung der Kurie, andererseits einem Bedeutungszuwachs der französischen Monarchie für die Belange Italiens. Die Gonzaga reagierten darauf mit einer intensivierten Bemühung ihrer französischen Verbindungen – Verwandtschaftsstrukturen und Bedingungen makropolitischen Zuschnitts entsprachen einander.

In der Schlussbetrachtung weist Ebba Severidt nochmals auf die zentrale Bedeutung der Eltern-Kind- und der Geschwisterbeziehungen für die Konstruktion von Verwandtschaft hin, die wegen der Beschränkung auf einen kleinen Kreis, innerhalb dessen intensiv interagiert wurde, sehr flexibel und – durch Eheverbindungen – für kurzfristige Allianzen offen war. Diese Allianzen wurden durch Frauen ins Werk gesetzt: Sie ermöglichten die Vernetzung mehrerer Familien, mit ihnen starben die Verbindungslinien wieder ab.

Die Verfasserin hat einen gewichtigen Beitrag zur politischen Mikrogeschichte und historischen Anthropologie nicht nur des Italien der Renaissance geleistet. Möglicherweise erscheinen manche ihrer Ergebnisse nicht überraschend, sie sind jedoch durch sorgfältige Analysen sowohl der Sprache als auch der Handlungen ihrer Akteure erheblich präzisiert und zudem operationalisierbar gemacht worden. Die Darstellung der politischen Ausrichtungen und Aktionen der Gonzaga erfolgt sehr nah entlang den zuvor skizzierten Verwandtschaftsstrukturen, sodass die Gefahr eines Zirkelschlusses nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Eine Analyse des kirchen- und machtpolitischen Kalküls der Markgrafen von Mantua zunächst ohne eine Berücksichtigung der deutschen Verwandtschaft, eine genauere Untersuchung der Kommunikations- und Aktionswege nach Frankreich und die nachträgliche Applizierung dieser Ergebnisse auf die zuvor entworfene Folie hätte dem Ergebnis noch mehr Glaubwürdigkeit verliehen. Diese Bemerkungen schmälern jedoch – andererseits – den Wert der Arbeit keineswegs, die sich völlig zu Recht auf eine Untersuchung der mantuanisch-deutschen Korrespondenz beschränkt. Nachfolgende Untersuchungen zur politischen Kultur Alteuropas werden massiv von dieser wissenschaftlichen Pionierleistung profitieren können.

Anmerkungen:

[1] Vergleiche Daniel Büchel / Volker Reinhardt (Hg.): Modell Rom? Der Kirchenstaat und Italien in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2003.

[2] Zum Beispiel Jochen Martin: Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie, in: Freiburger Universitätsblätter 126 (1994), 35-46; Maurizio Bettini: Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Frankfurt am Main / New York 1992.

Christian Wieland

Quelle:

Christian Wieland: Rezension von: Ebba Severidt: Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga. Struktur und Funktion von Familie und Verwandtschaft bei den Gonzaga und ihren deutschen Verwandten (1444 – 1519), Leinfelden-Echterdingen: DRW 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/02/2307.html (18.11.2011)

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